Der Meister einer fast verlorenen Kunst

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Die Energie soll fließen wie der Verkehr auf einer Autobahn: Beim Tasten des Pulses fühlt der Arzt den Fluss
Traditionelle chinesische Ärzte erkennen Krankheiten durch das Tasten des Pulsschlags. Im Juni kommen vier berühmte Meister zu einer Tagung chinesischer Ärzte nach Düsseldorf. An zwei Tagen öffnet sich der Kongress und bietet Seminare, Vorträge und Beratung für Interessierte.
Eine heiße Chinakohlsuppe: Schlucken und die Augen schließen. Es dampft im Magen. Die Wärme zieht in beiden Beinen hoch bis in die Knie. 
Und dann: Einen kleinen Ginseng-Rest kauen: Von der großen Zehe strömt die Energie bis zur Leiste nach oben, überquert den Magen, bis zum Herz. Der Sturm zieht weiter, bis in die Spitze des kleinen Fingers.
In der Kulturrevolution wurde der chinesische Arzt Wei Ren zum Arbeiten auf eine Baustelle geschickt, um seine Moral zu verbessern. Doch er wollte seine Forschung an der chinesischen Medizin und ihrer Wirkung auf den Energiefluss nicht unterbrechen. Denn so, wie die chinesischen Ärzte es schon immer getan hatten, machte er alle Experimente mit der eigenen Zunge und dem eigenen Bauch.

»Glücklicherweise gab es eine Werkstatt für chinesische Kräuter gleich neben der Baustelle. Dort wurden Kräuterreste weggeworfen«, erinnert sich Wei Ren. »Ich nahm sie mit, reinigte und trocknete sie und sortierte sie in Papiertüten.« Mit diesen Schätzen begann er zahlreiche Tests. Bei der Arbeit, vor dem Schlafen, wenn niemand ihn bemerkte, nahm er die kleinen Papiertüten aus seiner Tasche und steckte sich einen Kräuterrest in den Mund. »Ich spüre das Qi jedes Krautes in meinem Körper«, sagt er. »Zieht die Energie nach oben oder nach unten? Welcher Qi-Leitbahn folgt sie? Hat die Menge und Zeit der Einnahme einen Unterschied gemacht?«

Mit seiner Apotheke in der Tasche und dem Labor im Magen analysierte er über 300 Kräuter. Mehrmals vergiftete er sich und schwebte in Lebensgefahr. Schließlich sortierte er die 20 nützlichsten und sichersten Medikamente aus.
Die Energie zirkuliert in unserem Körper wie ein Kreis. Das Blut und andere Körperflüssigkeiten tragen die Nährstoffe aus den Organen zu den Gliedern, von innen nach außen für unsere Aktivitäten. Diesen »Dampf« der Flüssigkeiten nennen die Chinesen »Qi«. Es bildet ein Netzwerk, die so genannten Meridiane oder Qi-Leitbahnen.
Wie drei Schichten eines Blütenblattes, liegen die Qi-Leitbahnen innen, in der Mitte und außerhalb unseres Körpers. Essen und Getränke werden in verschiedenen Organen eingedampft. Dieser Energiedampf strahlt aus vom inneren Körper zur mittleren Schicht. Außen, rund um die Haut, bildet er eine Schutzschicht. Äußere »Energieschläge« wie Wind, Hitze, Feuchtigkeit, Trockenheit und Kälte dringen in unseren Körper und in die verschiedenen Schichten ein.
»Stellen Sie sich vor, Sie beobachten eine Autobahn aus der Luft«, vergleicht Wei Ren die Energiebahnen. »Wenn der Verkehr langsamer wird, wissen Sie, es muss weiter vorne einen Unfall gegeben haben oder die Autobahn ist abgenutzt und in einem schlechten Zustand.«

Durch das Testen der wichtigen Stellen an den Armen, Beinen und am Hals kann ein erfahrener Arzt sich ein Bild von der Energie und dem Kreislauf der Körperflüssigkeiten im Körper machen. Gibt es ein Problem, kann er mit spezieller Medizin oder Akupunktur den Verkehr von Qi und Körperflüssigkeit wieder zurück in die richtige Richtung leiten. Ist die Autobahn zu voll oder zu leer, wird Energie zugeführt oder entzogen. Das Ziel ist es, den ganzen Verkehr wieder fließen zu lassen. Kein Teil der Autobahn sollte überlastet oder zu wenig verwendet werden.
»Dieses alte Wissen um den Energiekreis und die Kunst der Pulsdiagnose sind seit vielen Jahren in China fast verloren gegangen. Ohne genaue Diagnose des Körperzustands bleiben die Symptome ein Rätsel und die Ärzte sind sich nicht sicher, welche Therapie sie wählen sollen«, sagt der chinesische Arzt Wei Ren. Weil er dieses Wissen bewahren und den Menschen – Kollegen und Patienten – zurückgeben wollte, schrieb Meister Wei Ren seine Forschungsergebnisse und Erfahrungen auf und nutzt jede Gelegenheit, sie zu teilen.
Im Herbst 1994 erkrankte ein junger Arzt in Luoyang auf einer Reise in der Provinz Henan. Zwei Wochen lang hatte er Durchfall. Obwohl er selbst Arzt war, konnte er sich nicht heilen. »Glücklicherweise kam Großmeister Wei zu mir«, sagt Wang Yongmin heute.
»Der Meister nahm meine Hand und testete den Puls am Handgelenk.« Als der junge Mann ihm beschreiben will, was passiert ist, bittet ihn der Großmeister zu schweigen und gibt ihm einen winzig Löffel Medizinpulver aus einer Flasche, das er mit heißem Wasser einnimmt. »Nach nicht einmal zehn Minuten fühlte ich, wie mein Magen heiß wurde und die angenehme Wärme nach unten sank. Mein Körper fühlte sich nicht mehr so schwer an und die Kraft kehrte zurück«, erzählt Wang Yongmin. Er bat den Meister zu bleiben und mehr Medizin zu geben, doch dieser nahm erneut sein Handgelenk und sagte: »Dein Puls läuft wieder glatt, mehr Medizin wird Dich nur aus dem Gleichgewicht bringen.«
Seit dieser Begegnung folgt Wang Yongmin Meister Wei Ren und unterstützt ihn in der Praxis und bei Vorträgen. Er hat alles von ihm gelernt, zusammen gingen sie nach Tibet zu einem Medizin-Buddha. In diesem Jahr wird Meister Wei Ren achtzig. Noch immer teilt er sein Wissen und heilt die Menschen. Heute geschieht das durch seinen besten Schüler, den neuen Meister, Wang Yongmin.

Fotos: TCM-Verband

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