von Andrea Wark
Wer sich vor etwa 200 Jahren von Osten der Stadt Düsseldorf näherte, tat das wahrscheinlich über die Grafenberger Chaussee, die heutige Grafenberger Allee. Düsseldorf war damals ein beschauliches, hübsches Städtchen mit etwa 13.000 Einwohnern, die Außenbezirke eingerechnet weniger als 22.000. Die Franzosen hatten Düsseldorf verlassen, nun war es Provinz und Besitz des preußischen Königs Friedrich Wilhelm III. Es gab ein paar Manufakturen, vier stellten Likör her, drei Tabakwaren, ein paar kleine Textilbetriebe und natürlich die berühmte Senffabrik. Die Stadtgrenze verlief an einer neuen Allee, die auf den ehemaligen Festungsbauwerken angelegt worden war, der heutigen Königsallee. An den Brücken über den Stadtgraben standen Zollhäuschen. Wollte ein Händler nicht in die teure Stadt, konnte er vorher am Flinger Steinweg – der heutigen Schadowstraße – nach Norden abbiegen zum Dorf Pempelfort, vielleicht um Garn zur Brügelmannschen Färberei zu bringen, oder sie nach Süden auf der Landstraße umfahren und durch wogende Felder in Richtung Arenbilk (Oberbilk) und Kirchbilk (um St. Martin) zockeln, wo größere Höfe lagen. Zu jener Zeit war nämlich die heutige Stadtmitte dörfliche Umgebung. In England hatte James Watt die Dampfmaschine weiterentwickelt und Henry Cort patentierte 1784 das Puddelverfahren, die maschinelle Umwandlung von Roh- zu Schmiedeeisen. Im selben Jahr hatte Kommerzienrat Brügelmann in Ratingen die erste vollmechanische Baumwollspinnerei auf dem Kontinent, die hochmoderne Fabrik Cromford, nebst luxuriösem Herrenhaus errichtet. Mit den 1830er Jahren erreichte die Industrialisierung Düsseldorf, und zwar mit Macht. 1831 war die Handelskammer gegründet worden. Im selben Jahr wurde der Rhein durch die Rheinschifffahrtsakte internationalisiert. Er war nun gemeinschaftliche Handelsstraße, auf der Händler ohne Zwänge ihre Güter transportieren konnten, und Düsseldorf erhielt einen Freihafen. Wurden 1831 in Düsseldorf 140 Tonnen Güter umgeschlagen, waren es 1840 bereits 1.160 Tonnen. Ab dem 15. Oktober 1838, Kronprinz Friedrich Wilhelms Geburtstag, dampften Eisenbahnen vom Bahnhof am Südende der heutigen Königsallee – dem damaligen Stadtrand – nach Wuppertal, ab 1846/47 mit der Cöln Mindener Bahn auch ins Ruhrgebiet. Es wurde gegründet, auf den Feldern der Umgebung entstanden große Fabriken, hauptsächlich für die Textil- und Metallverarbeitung. Die Einwohnerzahl wuchs in diesen neun Jahren von 13.000 auf 32.000, die ehemaligen Außenbezirke eingerechnet. Die Stadt platzte aus allen Nähten. Ein neuer Bebauungsplan wurde 1838 erstellt und 1854 von allerhöchster preußischer Stelle genehmigt (eine Bearbeitungszeit von 16 Jahren, für preußische Büros wohl seit 200 Jahren nicht ungewöhnlich, wenn man an den Flughafen BER denkt). Den Hauptteil bildete im Süden die Friedrichstadt, ordentlich rechtwinklig am Reißbrett geplant und benannt nach dem Kronprinzen. Nach Osten hin rechnete man mit weniger Ausdehnung, hier ging der Plan nur bis zur weiter oben genannten Landstraße. Und die wurde nun, als östliche Begrenzung der Stadt, Oststraße genannt. Gedacht war sie als Wohnort für die zahlreichen Beamten und gutbürgerlichen Bewohner. Die Anbindung an Oberbilk, wo auf der ehemals grünen Wiese die neuen Werke und Fabriken gebaut wurden und die Arbeiter wohnen würden, war eher dürftig. Seit 1853 gab es das Gaswerk an der Klosterstraße, was dem Wohnkomfort in den Neubauten zuträglich war. Auch die abendliche Beleuchtung der Straßen war nun möglich, im Sommer immerhin von 20 bis 23 Uhr, im Winter etwas früher. Die olfaktorischen Begleitumstände um das Gaswerk waren nicht zu leugnen – es müffelte erbärmlich, und die Nachbarschaft beschwerte sich –, aber was tut man nicht alles für den Fortschritt. 13 Jahresollte das so bleiben, bis das Gaswerk seinen neuen Standort in Flingern erhielt.
Um 1960/61: Noch ist der Tausendfüßler nicht gebaut. Die verbreiterte Immermannstraße reicht schon über die Oststraße hinweg bis zur Kreuzstraße, an der Klosterstraße steht die Ruine der alten Franziskanerkirche. Die Franziskanermönche waren im selben Jahr dorthin gezogen, auf das Gut Windschlag des Freiherren von Loë. Die ersten Patres wohnten im ehemaligen Kuhstall. Die Immermannstraße gab es noch nicht; man stelle sich die Gegend zu dieser Zeit als kontemplativen Ort für ein Kloster vor. Jenseits der heutigen Charlottenstraße war freies Feld. An der Cölner Straße standen ein paar Häuschen. Östlich des neuen Stadtrandes lag nach Sonnenuntergang alles in tiefer Dunkelheit. Die Bebauung der Oststraße schritt zügig voran, Haus um Haus im imposanten, historisierenden Stil der Gründerzeit entstand. 1871 zog die Brauerei Schumacher aus der Altstadt in ihren geräumigen Bau an der Oststraße. 1889 gibt es folgende Adressen: am Nordende, nah zur eleganten Jacobistraße und zur Tonhalle wohnten in der Numero 6 Heinrich Lauenstein, Professor für religiöse Historienmalerei an der Kunstakademie, No. 16 Kapellmeister Nehl und Rittmeister Julius Freiherr von Brenken und im Haus No. 21 der Fabrikbesitzer Poensgen; er hatte es nicht weit zu seinem Stahlwerk in Oberbilk. Nach Süden hin nahm die Eleganz etwas ab, in der No. 69 befand sich das Gasthaus zur Heimath, in der 75 eine fotografische Anstalt und eine Corsetfabrik, in der 108, Ecke Bahnstraße, Anton Keßler, Fabrikant, No. 111 Ecke Kaiser-Wilhelm-Straße (heute Friedrich-Ebert-Straße) das Hotel du Nord und schließlich fast am Ende der Straße eine Kammgarn-Spinnerei und gleich zwei Geldschrankfabriken. Schließlich mussten die Gründerzeitfabrikanten ihre Goldmark auch irgendwo aufbewahren. Dazwischen waren gut verteilt Handwerker, Bäcker, Metzger und Händler mit ihren Wohn- und Betriebsgebäuden, das Personal hatte es nicht weit für Besorgungen. 1891 war der neue Bahnhof fertig, die alten Gleise zwischen Kern- und Neustadt wurden abgerissen und die Oststraße endete nicht mehr an einer Bahntrasse, sondern kreuzte die prachtvolle, neu entstandene Graf-AdolfStraße. Très chic! 1882 war Düsseldorf mit mehr als 100.000 Einwohnern Großstadt geworden: die Bewohnerzahl hatte sich in etwa 70 Jahren verfünffacht. 1896 waren es bereits mehr als 180.000. Für die hauptsächlich katholischen Bürger um die Oststraße reichte die Kirche der Franziskaner nicht mehr aus, und so wurde die Kirche St. Mariae Empfängnis – von Düsseldorfern kurz Marienkirche genannt – errichtet.
Um 1956 ist die Oststraße noch schwer von Kriegsschäden gezeichnet. Der Wiederaufbau der Marienkirche hat begonnen, die Metzgerei Schmalzried noch an anderer Adresse als heute. Ganz rechts die Ruine der Klosterkirche. Baulich veränderte sich die Oststraße in den folgenden 45 Jahren nicht grundsätzlich. Äußerlich waren die gesellschaftlichen Veränderungen nicht so deutlich ablesbar wie andernorts. Fabrikanten und Großbürger zogen an andere Orte der Stadt, aber der Straßenzug blieb gutbürgerlich. Arbeiterwohnungen gab es an der Oststraße nicht. Der Bahnhofsnähe und dem Amüsierbetrieb um den nahen GrafAdolf-Platz geschuldet wuchs die Zahl der Gaststätten und Hotels. Aus den »Goldenen Zwanziger Jahren« wird von Kokotten, vornehmeren Prostituierten für den besseren Herrn, berichtet. Es wird in der eher wenig goldenen Zeit, bei hohen Arbeitslosenzahlen und großer Wohnungsnot, auch weniger vornehme gegeben haben. 1942 und 43 fielen Bomben auf Düsseldorf und verwüsteten die Innenstadt. An der Oststraße ragten nur noch einzelne Gründerzeitbauten demoliert aus Schutt- und Aschebergen: die alte Pracht war perdu. Die Zerstörung sollte als Chance für einen modernen Wiederaufbau genommen werden. Wie überall in der neuen City wurde an der Oststraße nicht nur neu gebaut, sondern auch höher, funktional und rasch. Manch einer riss auch ab, was hätte stehenbleiben können, und so war Mitte der 1960er Jahre von der alten Oststraße so gut wie nichts mehr zu erkennen. Sie blieb, trotz der Berliner Allee, die seit 1962 eine Hauptverkehrsachse von Nord nach Süd ist, eine geschäftige Straße mit Läden, Gastronomie, Büros und Verwaltungen. Elegant wird man sie heute an keiner Stelle nennen. Die ehemals schönsten Meter, das Nordende vom Wehrhahn bis zur Tonhallenstraße, litten in den letzten Jahren des U-Bahn-Baus besonders. Wir werden sehen, was hier zukünftig geschieht. Einige Traditionsbetriebe blieben erhalten: das Hotel Weidenhof, das Hotel Savoy, das in den 1950er und 60er Jahren Glamour an die Meile brachte, die Parfümerie Förster, Blumen FUSS und die Metzgereien Schmalzried und Schlösser gehören dazu. Auch die Franziskaner hatten Kirche und Kloster um 1960 neu erbaut – heute ist an der Oststraße kein Raum mehr für Kontemplation. Sie haben ihr Kloster – das letzte in Düsseldorf-Mitte – nach 160 Jahren aufgegeben. Die Statue des heiligen Franziskus kommt fort, an dieser Stelle wird ein Wohn- und Bürokomplex mit 50 Meter hohem Turm entstehen: die Stadt platzt mal wieder aus allen Nähten.
Das Franziskanerkloster an der Ecke Immermannstraße um 2001
Ein sehr beeindruckender Artikel, vielen Dank. Ich hatte eigentlich nach einem Möbelgeschäft auf der Oststrasse gesucht, nichts gefunden, aber dafür den schönen Artikel von Ihnen.