Seit 61 Jahren lebt Joachim Rokitta im selben Haus in der Ackerstraße. Im Jahre 1955 übersiedelte er mit seinen Eltern und drei Geschwistern von seinem Geburtsort Krözten in der Lüneburger Heide nach Düsseldorf. Der Vater war Eisenbahner und so bezog die Familie eine Wohnung des Eisenbahnerbauvereins. Im Hause wohnten andere Eisenbahner, man kannte sich, man feierte auch im Hof die Feste zusammen.
Der Weg zur Gemeinschaftsschule in der Lindenstraße war nicht weit. Nur über die Eisenbahnbrücke, wo damals noch ein Kreisverkehr war, dann noch ein paar Meter weiter. Zum Bahnhof dauerte es ein bisschen länger. Aber diese Strecke war auch viel interessanter für einen Schüler seines Alters. Vor allem der Weg bis zum Worringer Platz. »Der Bürgersteig war viel breiter als heute, die heutigen Parkstreifen gehörten noch dazu«, erinnert sich Joachim Rokitta. Und er zählt die Geschäfte auf, an denen er vorbeikam: die Drogerie Bach, der Gemüse- und Obstladen, die Zoo-Fachhandlung, der Metzger, die Bäckerei Höhle, das Eiscafé Maja, der Herrenausstatter mit der immer neuesten Mode, das Tapetengeschäft Hacketal, der Optiker Hermansen & Pringel und schließlich das Café Liebeck & Gabel kurz vor dem Worringer Platz. Diese Namen sprudeln aus ihm heraus.
Joachim R. zählt auf, so wie ein Fußballverliebter die Aufstellung der deutschen Elf von 1954 zelebriert. Zu allem kann er eine Geschichte erzählen. Zum Beispiel wie die Verkäuferin der Drogerie Ärger bekam, weil sie Präservative an Minderjährige verkaufte (minderjährig war man damals noch bis 21, die Redaktion). Zur Eröffnung der Unterführung des Worringer Platzes hat er noch das Bild klar vor Augen, wie ein Politiker mit der Schere das Band zur Rolltreppe durchschnitt. Alle Zuschauer klatschten Beifall. Nur wenige Jahre später verwahrloste diese Unterführung. Sie wurde geschlossen. Am Worringer Platz diente das Capitol erst als Theater – das Musical »Hair« war der Hit –, später als Kino, dann Bauhaus und Office Depot, jetzt Leerstand.
Nach der Schule absolvierte Joachim R. zunächst eine Lehre als Einzelhandelskaufmann beim Autohaus Nordrhein. Im Anschluss daran ging er zur Fachoberschule und machte den Abschluss zur Fachhochschulreife. Schließlich diente er für zwei Jahre als Radartiefflugmelder in der Nähe von Celle bei der Bundeswehr.
In Düsseldorf arbeitete er zunächst bei der Firma DAF, einem holländischen LKW-Hersteller, bis diese Firma 17 Jahre später in den Konkurs ging. Damals kam er noch nahtlos bei Mitsubishi unter. Zwei Jahre später wechselte er zu Fuijifilm, dort blieb er für zehn Jahre. Als diese massiv Stellen abbaute, erhielt er die betriebsbedingte Kündigung, konnte jedoch aufgrund eines Bestandsschutzabkommens noch ein weiteres Jahr bleiben. Eine neue Stelle war für den nunmehr 52-Jährigen unerreichbar. Seit dem Jahre 2005 ist Joachim Rokitta arbeitslos. Er beteiligt sich rege an einigen Projekten im Viertel. Bei der Diakonie hilft er aus und arbeitet in einer Projektgruppe mit.
Als Junge spielte Joachim R. Handball. Er war er in Sportvereinen, Alemannia 08 und Freie Schwimmer Düsseldorf hießen diese. Heute sieht er – manchmal versteckt in Hinterhöfen –, aber auch mit moderner Fassade zur Straße hin, private Anbieter, vor allem für Kampfsportarten. Die Namen versteht er nicht. Er kann auch nicht unterscheiden, ob es chinesisch, japanisch oder koreanisch ist. Die englischen Namen sind ihm schon vertrauter. »Die Jungen haben wenigstens Angebote« begrüßt er diese Initiativen, auch wenn sie kommerziell ausgerichtet sind, da er sich die Gebühren nicht leisten könnte.
Überhaupt sei die Lebensqualität gesunken. Dies läge nicht nur an dem Niedergang des Facheinzelhandels. »Die Menschen untereinander haben kein Verhältnis mehr, sie leben aneinander vorbei«.
Foto: Bernd Obermann